Meine Sommer in Italien                                                 Leseprobe

 

 

                                                 

 

 

Vielleicht haben Sie Ihre Sommer schon einmal in Italien verbracht, sahen auf Capri (oder anderswo) die rote Sonne im Meer versinken.

Vielleicht haben Sie die Frauen kennen gelernt: Die kokette Signorina, die zauberhafte Signora, die treusorgende Mamma, die keifende Schwiegermutter.

Vielleicht haben Sie antike Tempelreste bewundert, die Kirchen und Castelli.

Vielleicht haben es Ihnen die Märkte in ihrer bunten Vielfalt angetan. Vielleicht sahen Sie Friedhöfe mit ihren Beinhäusern wie weiße Prachtvillen, die schwarzgekleideten Frauen in den Dörfern.

Vielleicht erstaunte Sie die Geduld der Eltern mit ihren vielen lärmenden Bambinis. Oder Sie amüsierten oder echauffierten sich über die flatternde Wäsche zwischen den engen Häuserreihen.

Vielleicht erinnern Sie sich an die alten Lieder, die Canzoni, haben Tarantella getanzt und Ihre Hüften im Chachacha geschwungen.

Vielleicht aber waren Sie noch nie in Italien und sind jetzt neugierig geworden?

Zumindest auf eine Lesung zu diesem Thema?

 

 

Eine Kostprobe aus :MEINE SOMMER IN ITALIEN:

 

Sonntag am Meer

 

„Mamma! Domani andiamo al mare!“, schreit Toni schon im Treppenhaus. Das Gesicht der Schwiegermutter fängt an zu strahlen. Ihr Sohn Toni ist ein guter Junge, will sie mit ans Meer nehmen.

„Da muss ich sofort einkaufen gehen“, meint sie und putzt sich die Hände an ihrer Schürze ab.

“Wenn ich klingle, lässt du den Korb herunter“, ruft sie mir im Rausgehen zu.

Dieser Korb ist sehr wichtig im Leben einer neapolitanischen Familie. Korb– und Familiengröße sind identisch. In Schwiegermutters Wohnung hängt er vor der verglasten Verandatür 

an einem Haken, der so stabil ist wie ein Metzgerhaken zum Befestigen von Schweinehälften. Nach stürmischen Klingelzeichen oder Rufen, die mindestens noch drei Straßenzüge 

weiter zu hören sind, wird der Korb an einem Seil, so fest wie ein Schiffstau, heruntergelassen. Von Lebensmitteln bis zu Bekleidungsstücken, von Haushaltsgegenständen bis zu Kleinmöbeln,

 alles wird auf diesem Wege nach oben transportiert.

„Lass den Korb herunter“, tönt da auch schon die kräftige Stimme der Schwiegermutter.

Die nächsten Stunden ziehe ich an dem Strick, immer wieder rauf und dann wieder runter. Die Schwiegermutter kauft die halbe Stadt auf und der gute Junge Toni hat sich aus dem Staub gemacht.

Die Körbe sind schwer und meine Arme schmerzen. Schon wieder ein Korb! Während die Schwiegermutter unten den Korb füllt, dabei Signora Ludovica vom Schuhgeschäft 

die Neuigkeit ihres morgigen Ausflugs ans Meer erzählt, ziehe ich den nächsten Korb nach oben.

„Zieh nicht so schnell, sonst kippt der Korb um“. Schimpft sie in meine Richtung, mit einem Lächeln zu Signora Ludovica: „Ja und für den zweiten Gang koche ich diese köstlichen Rouladen, 

mit Eiern, Salami und Pistazienkernen gefüllt.“

Da kippt der Korb um. Tomaten, Salate und Gemüse matschen auf den Boden. Der naserümpfende Blick nach oben und eine entsprechende Bemerkung zu Signora Ludovia über diese jungen 

Frauen von heute, klären sofort die Schuldfrage.

Aufatmend nehme ich die riesige Tortenplatte aus dem Korb, stelle sie auf den Tisch und massiere meine schmerzenden Arme. Gottseidank! Jetzt ist alles hochgehievt.

Mit hochrotem Kopf schmeißt sich die Schwiegermutter auf einen Stuhl.

„Uffa, war das anstrengend! Hoffentlich habe ich nichts vergessen. Unterbrich mich nicht beim Nachdenken“, schnauft sie. „Was könnte ich denn heute schon vorbereiten? 

Wenn mein Sohn mich mit ans Meer nimmt, dann soll´s schon was Besonderes zu essen geben.“

Hektisch rennt sie durch die Küche, stellt die eingekauften Waren von einem Schrank auf den anderen.

„Mehl!“, schreit sie, „ich hab Mehl vergessen und Kartoffeln. Madonna mia! Kartoffeln! Ich will doch Pazarottis  machen. Tu mir den Gefallen, figlia mia, hol mir die beiden Sachen.“

Froh mich verdrücken zu können, gehe ich zur Tür, wo mir Tante Teresa, Schwiegermutters Schwester, entgegen kommt.

„Ciao, sorella mia“, wird sie erfreut begrüßt. „Stell dir vor...“

 

Irgend etwas poltert auf den Marmorboden. Dazwischen das monotone Singen der Schwiegermutter: „Quore, quor´ingrata...“

Verschlafen sehe ich auf die Uhr. Sechs! Draußen ist es schon hell.

„Was machst du denn für einen Lärm. Es ist doch noch so früh. Da kann man ja gar nicht mehr schlafen.“

Missmutig stehe ich in der Küchentür. Frisch und ausgeruht lacht mich die Schwiegermutter an:

„Geh wieder ins Bett, Kind. Schlaf noch ein paar Stunden.“

Gesang und Töpfeklappern lassen mich nicht mehr einschlafen.  Ich setze mich auf einem Küchenstuhl, der nicht mit Gemüse beladen ist, und sehe ihr verdrossen zu. 

Signora Nanni von nebenan reckt sich im Nachthemd am offenen Fenster.

„Was macht ihr beiden denn so früh? Könnt ihr nicht schlafen? Ich habe schon frischen Kaffee gekocht, wollt ihr ein Tässchen?“

Signora Nanni reicht das Tablett mit den zierlichen Espressotassen durch das Fenster. Dabei müssen sich beide weit aus dem Fenster beugen, was nicht ungefährlich ist, 

doch in den Jahren ihrer Nachbarschaft oft geübt wurde. Kaffeetrinkend erzählt die Schwiegermutter von ihrem Ausflug ans Meer. Berichtet in allen Einzelheiten von den verschiedensten Gängen, die heute gekocht werden.

„Wenn mich mein Sohn schon mal mitnimmt ans Meer, soll es was Ordentliches zu essen geben.“ Sie zwinkert Signora Nanni zu, die sie neidvoll ansieht.

 

Auberginen im Salzwasser, Kartoffeln gekocht, Fisch gesäubert, Salate geputzt, ebenso das Gemüse. Die selbstgemachten Nudeln liegen unter einem weißen Leinentuch zum Trocknen. 

Das Ragú mit den gefüllten Rouladen kocht auf kleiner Flamme. Der Käse für die verschiedensten Füllungen ist geschnitten oder gerieben. Puh!

Mittlerweile ist es zehn Uhr, einer nach dem anderen steht auf, wirft einen Blick in die Küche: „Gibt’s noch keinen Kaffee?“

Eilig stellt die Schwiegermutter die Espressomaschine auf den Herd. Jetzt werde ich zum Küchendienst eingeteilt: Auberginen braten, füllen, wieder braten, Kartoffeln zerquetschen, 

Paprika zerkleinern, schmoren, Salatsoßen rühren, Fische ausbraten oder kochen.

Die Schwiegermutter lacht: „Alle Arbeitsgänge geteilt durch zwei ist nur die Hälfte Arbeit.“

Die Männer trinken Kaffee und diskutieren Wichtiges. Eigentlich hätten wir auch durch vier oder noch mehr teilen können.

Das 12 Uhr-Bimmeln der nahen Kirche San Antonio Abate und wir sind klar zur Abfahrt. Fast! Tischdecke einpacken, die gute weiße, Servietten, Teller, Besteck, Gläser, 

Thermoskanne mit Kaffee, Gekochtes zum Warmhalten in eine Isoliertasche, Getränke in die mit Eis gefüllte Kühltasche.

Zwischen Kindergeschrei und männlicher Eile geht’s zu den Autos. Alle Sachen werden verstaut. Die kleine Tochter von Signora Nanni, die den ganzen Vormittag sehnsüchtig in die Küche 

der Schwiegermutter geschaut hat, darf schließlich auch mit. Mit Schwimmflossen, Luftmatratze und einer großen Wassermelone steht sie neben einem Auto. 

Nur die Schwiegermutter ist noch nicht fertig, muss noch duschen. In einem neuen rosa Kleid, der Modefarbe dieses Sommers, kommt sie, sich nach allen Seiten umsehend, 

ob auch alle Nachbarn bemerken, wer hier mit wie viel Essen beladen losfährt, ob auch alle, die meisten wissen es ohnehin schon, sehen, welch gute Söhne sie hat, die sie am Sonntag mit ans Meer nehmen.

 

Bis zu dem Strandbad in Licola sind es rund 40 Kilometer. Nach zweieinhalb verschwitzen Stunden sind wir da. Anscheinend hatten viele Familien einen ähnlichen Vormittag hinter sich gebracht wie wir.

Das Strandbad „La bella vista“ ist überfüllt. Für uns ist zwar noch Platz, doch mit dem Auto ist es nicht so einfach. Claudio regelt das, wie man das hier so regelt: 

Ein Lireschein mittlerer Größe wechselt den Besitzer, dafür bekommt das Auto einen schattigen Platz.

Laute Klänge aus der Musikbox vermischen sich mit dem ausgelassenen Geschrei der Badegäste. An langen schmalen Holztischen mit ebensolchen Bänken sitzen Familien, 

die wie wir das Essen von zu Hause mitgebracht haben. Die Schwiegermutter steuert auf einen der Tische zu, setzt sich auf eine freie Kante am Ende der Bank und stöhnt vor sich hin: 

„Uffa! Ich kann nicht mehr. So eine Hitze. Aber meine Söhne wollten mich alte Frau unbedingt mitnehmen und was soll man da machen. Bin ich halt mitgefahren.“

Die Leute am Tisch rutschen ein bisschen zusammen und sind sichtlich beeindruckt.

„Da können Sie aber froh sein, Signora, dass Sie solche Söhne haben. So etwas gibt es heute kaum noch. Heutzutage denken alle nur noch an sich und vergessen ihre Mütter. Tja, die Jugend!“

Stolz hält die Schwiegermutter Ausschau nach ihren Söhnen. Die sind alle schon im Wasser und überlassen es dem tatkräftigen Charme ihrer Mutter, einen Platz für 

das anschließende Essen zu ergattern. Die bleibt erzählend auf ihrer inzwischen breiter gewordenen Kante sitzen, wird von den Leuten zum Mitessen eingeladen, was sie aber entrüstet ablehnt: 

„Lassen Sie sich nicht stören. Ich will mich nur ein wenig ausruhen.“

Zwischen Kinder, die mit Zwei- und Dreirädern durch die engen Tischreihen kurven, und den dazugehörenden Müttern, die mit gefüllten Tellern hinterherlaufen, um hin und wieder einen 

Löffel in den unwilligen Mäulern unterzubringen, zwischen Leuten, die ihre Luftmatratzen ausgerechnet hier aufpusten müssen, drängle ich mich zu Schwiegermutter. 

Viele Frauen sitzen wie sie angezogen an den Tischen und bemuttern ihre Familien. Ein großes, weißes Tuch in der Hand, fächelt die Schwiegermutter sich Luft zu.

„Mamma, willst du nicht auch mal ins Wasser gehen? Hier oben ist es doch schrecklich heiß.“

Bis zum Wasser sind es mindestens fünfzig Meter, und von hier aus kann man nicht mal sehen.

„Um Gottes Willen! Ich geh doch nicht ins Wasser! Meine Schwester Amelia, damals vor zwanzig Jahren, wäre fast ertrunken beim Schwimmen im Meer. Weißt du das denn gar nicht?“ 

Dabei sieht sie mich strafend an. Die circa 15 Personen am Tisch und auch die an den umliegenden Tischen hören interessiert der Geschichte von Amelias Fastertrinken zu. 

Alle sind sich einig, dass sie an Schwiegermutters Stelle auch nie wieder im Meer schwimmen würden. Ein Bikinimädchen geht, sich in den Hüften wiegend, an unserem Tisch vorbei.

„Che scandalo!“ Faucht die Schwiegermutter und hält sich dabei den recht freizügigen Ausschnitt ihres Kleides zusammen. „Dass die sich nicht schämt, so halbnackt hier rumzulaufen.“ 

Sie schüttelt entrüstet den Kopf: „Gut, dass ich keine Tochter haben!“

Von der überdachten Terrasse aus, wo die Essenden sitzen, führen schmale Bretter durch den heißen Sand bis ans Meer. Rechts und links davon sitzen Leute, meist ältere, bis zu den Schultern in den heißen Sand eingegraben. Zum Schutze des Kopfes halten sie einen Schirm in der freien Hand. Der heiße Sand soll gut sein gegen Rheuma. Manchmal geht einer der Essenden zu den Schwitzenden, 

bringt zu trinken und wischt das verschwitzte Gesicht mit einem feuchten, kühlen Tuch ab.

Die Schwiegermutter sieht dem Treiben skeptisch zu: „Das hat meinem armen Mann, buon´anima marito, auch nicht helfen können.“ Dabei küsst sie ihre Hand und schlägt ein Kreuzzeichen. 

Sie erzählt den neugewonnen Freunden an den Tischen rundherum von der Leidensgeschichte ihres toten Ehemannes.

„Dio mio, wie musste der Arme leiden. Was hat er damals gestöhnt, hier im heißen Sand. Für sein Rheuma war das ja ganz gut, aber dann...“

Die Familie am Tisch fängt an, ihre Sachen zusammenzupacken. Ein Zeichen für die Schwiegermutter, ihr weißes Tuch in den Kleiderausschnitt zu stecken und sich betriebsam in Richtung Auto zu bewegen.

„Ruf du schon die anderen! Wir essen gleich!“

Fast achtzehn Uhr, als alle am sonntäglich gedeckten Tisch sitzen.

„Il primo!“ Und sie stellt die selbstgemachten Nudeln mit der duftenden Soße des Ragú auf den Tisch.

„Il secondo!“ Die mit Eiern, Salami und Pistazienkernen gefüllten Rouladen. Danach geschmorte Paprika mit Kapern und schwarzen Oliven, gebratene Hühnchen, verschiedenste Gemüsesorten und Salate, 

Fisch gebraten und gekocht, Panzarottis, die wunderbarsten aller Kroketten, Käse, Obst, Wein und Mineralwasser. Zum Schluss, mittlerweile ist dunkel geworden, Kaffee und Torte.

Die bunten Lampions an dem provisorischen Dach aus Bambusrohren verteilen ein romantisches Licht. An den Tischen sind die Gespräche noch intensiver geworden. Von jedem Gang, den es zu essen gibt, 

wird an jeden Tisch eine Kostprobe gebracht. Die anderen wiederum verteilen ihrerseits Kostproben an unserem Tisch. Der Besitzer des Strandbades setzt sich mit einem alten Liegestuhl zwischen die immer noch vollbesetzten Tischreihen und holt eine Maultrommel aus der Hosentasche.

„Ich bin Sizilianer und bei uns wird nach dem Essen immer Musik gemacht.“

Er spielt und dazwischen singt er mit einer hohen Tenorstimme Lieder, die sich arabisch anhören. Der Applaus ist gewaltig. Das können die vielen Gäste aus dem nahen Napoli, der Stadt der Musik, 

nicht ohne Beitrag lassen. Die alten canzoni werden gesungen. Caruso wäre stolz und begeistert gewesen über die vielen Talente seiner Stadt.

Die Schwiegermutter summt laut mit. Viele Lieder kennt sie nicht, aber die, die sie kennt, singt sie mit Leidenschaft. Vor Jahren hörte ich sie zum ersten Mal singen beim Wäschewaschen 

(siehe Seite 17: Waschtag) auf dem Waschbrett. Heute hat die Waschmaschine in ihren Haushalt Einzug gehalten und das Singen ist seltener geworden.

„Sing du auch was, mamma“, bitte ich sie. “Du weißt schon, das Lied von der Lilli.“

„Vorrr derrr Latärrrne, vorrr däm grossen Torrr...“, singt sie in Tönen, wie sie der Komponist nie vorgesehen hatte. Alle sind begeistert und klatschen Beifall. Doch nur die Älteren kennen dieses Lied.

„La Signora tedesca“, fordern die Anwesenden mich auf zu singen. Ich traue mich aber nicht. Und erzähle dafür die Geschichte des Liedes Lili Marlen. Zwei Jugendliche, 

die schon vorher ein paar fetzige Lieder gesungen hatten, wollen sich unbedingt die Noten und den Text der Lili Marlen besorgen: „Das gibt ´nen Superhit für unsere Band!“ Sie sind begeistert.

Irgendwann packen die Frauen an den Tischen die Teller und alles andere zusammen. Sprechen noch einmal über den schönen Tag am Meer. Die Männer erzählen derweil Witze, 

die alle kennen und trotzdem tüchtig belacht werden. Versprechen sich, öfter mal einen Sonntag am Meer zu verbringen.

 

 

Abgespannt aber glücklich, das Geschirrtuch über der Schulter, lehnt die Schwiegermutter am Fenster und beredet mit Signora Nanni den herrlichen Tag.

„Ach, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie wunderschön dieser Tag war. Ich habe wirklich gute Söhne, die sich um ihre Mutter kümmern. Ach ja, so einen Tag müssten Sie auch mal erleben.“


 

 

Arrivederci, Signora Deutschland

 

Die Hitze flirrt über dem süditalienischen Dorf. An einem Felsen, der ins Meer ragt, stehen die Häuser dicht aneinandergepresst. Grüne Tupfen die Fensterläden. 

Malerisch, wenn man im Meer schwimmt, seine Kühle aufsaugt und alles von Weitem beobachtet.

"Ich gehe ein Stück in die Berg. Da ist es kühler", sage ich zu Claudio und unseren Freunden, die ausgelassen im Meer toben. Sie bemerken kaum, dass ich weggehe. 

Gut so, da kann ich ein bisschen alleine sein.Der steinige Weg führt durch Obstplantagen. Früchte hängen reif und schwer, fast auf dem Boden. Von den Bewässerungsanlagen treibt der Wind 

einen zarten Wasserschleier, der in Regenbogenfarben schillert, über das Land. Im Schatten der Bäume antike Mauerreste aus der Römerzeit. Eidechsen flirren zwischen den Steinen. 

Ein Grund für mich, die Steine nicht zum Ausruhen zu benutzen. Schaudernd denke ich an den vergangenen Abend, wo eines dieser "lucertole" über meinem Bett an der Wand entlang lief. Schreiend rannte ich auf die Terrasse:

"Claudio! Schnell Komm sofort rauf!" Die Eidechse sah aus wie ein kleines Krokodil.

Nicht nur Claudio kam eilig die Treppen hoch, auch einige der anderen Feriengäste, die annahmen, es wäre Schreckliches passiert. Die Leute lachten und beglückwünschten mich zu meiner 

lucertola. Ich soll sie nicht vertreiben durch mein Geschrei. Lucertole sind Glücksbringer.

"Ich will kein Glück. Jedenfalls nicht so eins", schrie ich. "Ich will eine Wohnung ohne Krokodile."

Kurz entschlossen steuere ich den Bauernhof an, der ein Stück höher in der schon schwächer werdenden Sonne liegt. Vor einigen Tagen hatte ich die Bäuerin dieses Hofes kennengelernt. 

Sie verkaufte Gemüse auf dem Markt.

"Wenn sie Obst brauchen oder Milch, dann kommen sie auf meinen Hof. Da kriegen sie alles frisch."

Altersschwach und verwahrlost liegt der Hof vor mir. Auf mein Rufen lässt sich niemand sehen. Eine Katze streicht mir um die Beine. Rinderblöken und die klappernden Fensterläden 

sind die einzigen Geräusche. Keine Laute wie ich sie aus meiner hektischen Welt kenne. Friedlich lagert der beginnende Abend.

"Du Deutsch?", fragt eine Männerstimme. Erschrocken drehe ich mich um. Ein älterer Mann, unrasiert, mit struppigen Haaren, ausgefranster Hose und schneeweißem Hemd lehnt an der Hauswand.

"Buena sera. Ja, ich bin Deutsche. Ich möchte gerne Milch und Gemüse bei ihnen kaufen. Ihre Frau hat mir auf dem Markt erzählt, dass sie ihren Hof hier oben haben.", sage ich in bestem Italienisch. 

Warum müssen meine Haar so aschig-gelb sein. Die typische Deutsche. Heute morgen riefen wieder einmal Kinder hinter mir her:

"Du Deutsch? Heil Hitler! Esse Esse!" Dabei rissen sie die Arme hoch zum, wie sie glauben, "Deutschen Gruß".

In Comics und von den vielen Fernsehanstalten wird die NS-Zeit serienmäßig unters Volk gestreut. Dieser Teil deutscher Geschichte fasziniert vor allem Kinder und Jugendliche. 

Horror und Science fiction sind genau so beliebt wie NS-Geschichten. Dabei können sie kaum unterscheiden zwischen dem Damals und dem Heute. Bei solchen Gelegenheiten kommt 

mir mein gesammelter Sprachschatz an italienischen Schimpfwörtern zugute, der alles andere als zimperlich ist.

"Disgraziati! Ignoranti! Cretini! Andante al inferno!", schrie ich wütend. Die erstaunten Kinderaugen bereiteten mir Genugtuung.

"Das ist gar keine Deutsche! Die sieht nur so aus!" Mit diesen Worten rannten sie davon.

"Guarda, Signora Deutschland."

Die Stimme des Bauern holt mich aus meinen Gedanken. Rasch näher kommend reißt er sich das Hemd vom Oberkörper. Rote, wulstige, teils mit Krusten bedeckte Narben, verteilt über Brust und Rücken.

"Guarda", dabei zeigt er auf die Narben. "Questo fare Deutsch in guerra."

Ein kalter Schweiß bildet sich in Sekundenschnelle auf meinem Körper. Wäre ich nur am Strand geblieben. Ich habe Angst. Wie komme ich nur hier weg. Ich will ihm erklären, wie man das in solchen Fällen tut, 

dass ich im Krieg noch ein Säugling war. Doch er lässt mich nicht zu Wort kommen.

"Vieni, Signora Deutschland!" Er greift meine Hand und zieht mich hinter sich her. Mit schlotternden Knien stolpere ich ihm nach. Wo ist die freundliche Bäuerin? Lucertole sind Glücksbringer.

"Prego, setz". Er schiebt mir einen Stuhl in die Kniekehlen. Mein Herz klopft. Ich will hier weg.

"Vino, ja?" Er stellt Wein, Brot und Schinken vor mich auf den Tisch.

"Mangiare, ja?" Er lächelt mich an. Warum lächelt er nur? Panik verteilt sich von den Haaren bis in die Zehen. Ich will weg. Da steckt er sich ein Stück Schinken in den Mund und prostet mir zu. 

Aber ..., was will er nur von mir?

"Du paura?", lächelt er wieder.

"No, no, du nix Angst. No, no! Guarda", und er beginnt die Geschichte seiner Narben zu erzählen. Ständig wächst meine Angst. Erzählt von den bösen Deutschen im Krieg. 

Eigentlich müsste er mein Herz klopfen hören. Dazwischen immer wieder: "Capito, ja?" Sein Italienisch ist so verdreht, dass ich kaum etwas versteht. Er redet in gebrochenem Italienisch mit mir, 

so, wie manche Deutsche mit Ausländern reden. Das Gesicht des Bauern ist aufgewühlt und traurig. Er nimmt meine Hand und streicht beruhigend darüber. Wieder einmal schäme ich mich Deutsche zu sein. 

Wieder einmal siegt Scham über das Gefühl, eigentlich gerne Deutsche zu sein.

"Guarda", erklärt er mir. Die Deutschen von heute sind ganz anders. Heute ist alles ganz anders in Deutschland. Die Deutschen geben seinen Landsleuten Arbeit und bezahlen gut. Zwei seiner 

Söhne haben Arbeit gefunden, als Mauerer. In den Wintermonaten, wenn sie in Deutschland nicht gebraucht werden, bauen sie an einem eigenen Hotel, unten am Strand. Für später.

"Bald viele Touristen hier. Dann auch viel Geld verdienen in Italia."

Wirklich, sagt er, heute sind die Deutschen ganz anders. Ich habe nicht den Mut ihm zu sagen wie es den ausländischen Arbeitern wirklich geht, in diesem Land, in meinem Land.

"Devo andare", und ich renne zur Tür. Angst kann ich aushalten. Aber Scham. Er ruft mir nach:

" Du Milch mitnehmen und frutta. Du wiederkommen. Mit famiglia. Arrividerci, Signora Deutschland."

Arrivederci, Signora Deutschland-land-land, verfolgen mich Männerstimmen bis in den Schlaf.

 

 

 

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Letzte Änderung: 06.09.09 14:12 webmaster@iasevoli.de

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